41 - Soldiner Rampe

Biographie

Theaterkeller Neuss

(1982-1994)

In der Spielzeit 1982 wurde am Theaterkeller Neuss Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ aufgeführt. Eine mitwirkende Kommilitonin lud den 22 Jahre jungen Jürgen Nafti zur Publikumsprobe ein. Und dieser zeigte sich ad hoc so fasziniert, dass er dass Stück in 22 der folgenden 42 Vorstellungen besuchte – die Welt des Theaters hatte ihn für immer eingenommen.

An der 1961 von Johann Maria Schlögel gegründeten freien Bühne begannen Jürgen Naftis Lehrjahre. Von 1982 bis 1986 absolvierte er eine Schauspielausbildung bei dem österreichischen Theatermacher Wilhelm Rudolph Anderer, einem ehemaligen Schüler Oskar Kokoschkas („Schule des Sehens“ an der Salzburger Akademie 1953-1963), der die Leitung des Theaterkellers 1973 auf Ersuchen des Kulturamtes der Stadt Neuss übernommen hatte.

Unter der künstlerischen Leitung W.R. Anderers (1973-1993) entwickelte sich der Theaterkeller zunehmend zu einem Hort des Zeitgenössischen Theaters. Anderer nahm sich Autoren wie Ionesco, Beckett, Pinter, Eliot, Sartre, Brecht, Bond, Fo, R.J.Sender, Orton, Pirandello, Eichendorff, Horváth oder Dürrenmatt an und verstand in der Bearbeitung ihrer Stoffe sich und sein Ensemble stetig fortzuentwickeln. Durch die Auseinandersetzung mit dem dramaturgischen und literarischen Erbe Brechts und Ionescos, die Fruchtbarmachung der Lehren Stanislawskis und die Weiterentwicklung der Ästhetik Kokoschkas flossen diese als die vier Hauptadern in das Werk des Theaterkellers ein.

Dreißig Jahre später erinnert sich Jürgen Nafti an seinen bühnenästhetischen Erkenntnisgewinn als Schauspieler unter der Wirkung seines Lehrers und Regisseurs Anderer: „Während der Inszenierung von Horváths Glaube, Liebe, Hoffnung, jenem Stück, mit dem ich zum vollgültigen Schauspieler am Theaterkeller wurde, begann ich zu begreifen, was Willi eigentlich und wirklich macht – er war ein Maler, er brachte uns als Farben auf die Leinwand namens Bühne, ließ unser Spiel klingen wie eine fein durchkomponierte Symphonie; da blieb nichts dem Zufall überlassen […]“

In der schon sprichwörtlich gewordenen „Ära Anderer“ entwickelte sich die einstige Amateurbühne zu einem anspruchsvollen und traditionsreichen Theater, das seinem Publikum Weltliteratur und Schauspielkunst auf hohem künstlerischen Niveau bot. In den Spielzeiten der 80er und frühen 90er Jahre inszenierte Anderers Ensemble Stücke von Arabal, Brecht, Bond, Horváth, Dürrenmatt, Pinter – und immer wieder Ionesco. Auf dem Bühnen-Programm standen jedoch nicht nur absurde, groteske, sozialkritische und politische Stoffe.

1984 gab Jürgen Nafti sein Schauspiel-Debüt in der Rolle des Len in Edward Bonds „Gerettet“ (London 1965).


Das Stück, mit dem der junge britische Autor Mitte der 60er Jahre Furore machte, thematisiert das Leben und die Schicksale verwahrloster Jugendlicher in Londoner Vorstadtvierteln. Lag es Bond als Brecht-Schüler vor allem nahe, auf gesellschaftliche Mißstände hinzudeuten, so löste das Stück mit der Darstellung einer Gewaltszene, in welcher ein Säugling von Mitgliedern einer Jugend-Gang zu Tode gesteinigt wird, einen wahrhaften Skandal aus.

Nachdem Gerettet (Originaltitel: „Saved“) 1965 im Royal Court Theatre zur Premiere gekommen war, wurde es von der Zensur für gewaltverherrlichend erklärt und verboten. Die Absetzung des Stückes aber initiierte und befeuerte eine breite öffentliche Debatte, die sich zu einem mehrjährigen Ringen um künstlerische Freiheiten auswuchs. Somit hatte der junge Dramatiker Bond zwar nolens volens doch wesentlich zur Abschaffung der Theaterzensur in Großbritannien (1968) beigetragen.

In einem nicht minder wirkmächtigen Stück: in Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui fand Jürgen Nafti in der folgenden Spielzeit des Theaterkellers (1985/86) seine nächsten Rollen.

Das 1941 entstandene und zu Lebzeiten Brechts nie gespielte Drama, das erst 1958 dank Peter Palitzsch in Stuttgart seine Uraufführung fand (bevor es in deren Folge seine lange Erfolgsgeschichte am Berliner Ensemble antrat), brach auch im Theaterkeller als elementares gesellschaftliches Ereignis ein. Die den Aufstieg und die Machtergreifung der NSDAP und Hitlers thematisierende Parabel (Brecht selbst nannte sie „Historienfarce“) traf 1985 ebenso den Nerv der späten Nachkriegszeit, wie sie es auch heute noch auf vielen Bühnen tut.

In Allegorien und Verfremdungen schildert Brecht den Menschen als schwaches, verführbares Wesen und schärft unseren Sinn für das, was viele nicht an sich selbst erkennen woll(t)en.

W.R.Anderers Arturo Ui wurde ein großer Erfolg; die Kritik und ein eigens aus Berlin angereister Dramaturg des BE feierten sie. Anderer hatte – ausgehend von der Kritik Ionesco`s an Brecht – sein Augenmerk auf den schwächlichen Kleinbürger gelegt, ohne der Brechtschen Faszination für den Verbrecher zu folgen; und hatte damit dennoch eine fundierte Brecht-Interpretation geliefert.

Hatte der Theaterkeller bereits mit Furcht & Elend des Dritten Reiches die Zeit, um Publikum und Anerkennung erst noch kämpfen zu müssen, weitgehend hinter sich gelassen, so stand seit Mitte der 80er Jahre ein verdienstvolles, reifes Ensemble vor neuen Herausforderungen: Durch frische Kräfte und neue Stoffe die Aufmerksamkeit des Publikums und damit die Selbstbestätigung des Ensembles zu finden und auf einem weiterhin steinigen Wege über sich selbst hinaus zu wachsen. Der Theaterkeller hatte sich einen Ruf weit über die Grenzen von Düsseldorf und Neuss hinaus bis hin nach Köln, Wuppertal, Bochum und Dortmund erarbeitet.

Die nächsten Stationen seines Werdegangs am Theaterkeller fand Jürgen Nafti bei den folgenden Stücken:

1986/87     Ödön von Horváth: Glaube, Liebe, Hoffnung (S.A. Klostermeyer, Baron)

1987/88     Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker (Inspektor Richard Voss)

1988/89     Ramon J. Sender: Das Photo (Theodosius), Ionesco: Delirium zu Zweit (Er)

1990/91      Eugene Ionesco: Die kahle Sängerin (Mr.Smith)

1991/92      Harold Pinter: Der Hausmeister (Regieassistenz)

1992/93      Tadeusz Rozewicz: Unsere kleine Stabilisierung (Regieassistenz)

 

In Vorbereitung des von W.R.Anderer beabsichtigten Rückzugs vom Theater zugunsten eines lange auf Eis gelegten schriftstellerischen Schaffens begann man 1993 mit gemeinsamen Regie-Proben zu Horváths Das Schlamperl, Mord in der Mohrengasse und Ein Epilog. Die Arbeiten sollten – so die Hoffnung Anderers – deutlich machen, wer nach ihm die künstlerische Leitung des Theaterkellers übernehmen würde. Im Zuge dieser personellen und künstlerischen Auseinandersetzung erlag Wilhelm Rudolph Anderer im zunehmend spannungsgeladenen Vorfeld der entscheidenden Besprechung einem Herzinfarkt. Das Ensemble blieb unter schwerem Schock auf sich selbst zurückgeworfen.


Nach Anderers Tod

Nach dem Tod Anderers trat Jürgen Nafti zunächst neben Harald Götz als Mitglied der künstlerischen Leitung dessen Nachfolge an. Zwar gelang es ihm in seinem Regie-Debüt mit jungen, frischen Kräften, den Keller vor dem unmittelbar bevorstehenden Aus zu bewahren, nachdem sich Götz in seiner Arbeit mit dem angestammten Ensemble mit einem Beckett-Stoff überfordert hatte, doch ließ sich damit für Nafti nicht der künstlerische Anspruch durchsetzen, der eine Fortsetzung des Andererschen Werkes am Theaterkeller hätte bedeuten können.

Nachdem ein offener Brief ans Ensemble im Sommer 1994 vor allem von den altein- gesessenen Mitgliedern ignoriert worden war, sah Jürgen Nafti darin kein Interesse artikuliert, den künstlerischen Pfad Anderers weiter zu verfolgen und damit auch für sich den Zeitpunkt gekommen, den Theaterkeller zu verlassen, um die Lehre seines Meisters ungestört fortführen zu können.

Mit zwei Koffern unterm Arm und Geld für ein paar Übernachtungen verliess Jürgen Nafti nach zwölfjähriger Treue das älteste freie Theater in Neuss und ging nach Berlin.

Text: Gabriel Pol

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